Antisemitismus hat sich seit dem Anbruch der Moderne im 19. Jahrhundert verändert. Mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen entstand ein weltlicher, nicht-religiöser Antisemitismus. Dieser säkulare Judenhass verspricht in Zeiten von Krisen und Ungerechtigkeiten eine Erklärung der Welt und ein Ventil für die eigenen negativen Gefühle. Er wird auch gezielt als politisches Instrument genutzt.
Der moderne Antisemitismus ist im Kern eine große Verschwörungserzählung. Diese behauptet, dass eine Gruppe von bösen jüdischen Verschwörern die Welt im Geheimen lenken würde, um sich zu bereichern oder anderen zu schaden.
Offener Judenhass wie im Nationalsozialismus ist in der heutigen Gesellschaft verpönt und zum Teil als Volksverhetzung strafbar. Daher werden oft Metaphern oder Codes genutzt, um Antisemitismus auszuleben. Man spicht nicht offen über Juden, aber so, dass jeder weiß, wer gemeint ist. Inzwischen sind diese Chiffren durch ihre jahrelange Nutzung so verbreitet, dass sie auch unbewusst verwendet werden.
Beispiele hierfür sind die Begriffe »Globalisten« oder »Zionisten«. Diese Chiffren für eine angebliche jüdische Weltverschwörung werden teiweilse bewusst verwendet, um strafrechtliche und gesellschaftliche Konsequenzen zu umgehen. Sie können aber auch unbewusst verwendet werden, da sie inzwischen weit verbreitet sind. Trotzdem funktioniert der Code in beiden Fällen, denn wer die Chiffren kennt, versteht, dass hier Juden gemeint sind.
Diese Metaphern sind häufig, aber nicht nur, in den sozialen Medien und Kampagnen verschwörungsgläubiger politischer Gruppen zu sehen. Auch rechtsterroristische Attentäter verweisen in ihren Schriften immer wieder auf die dahinterstehenden Verschwörungserzählungen und verwenden die Codes. Ein Beispiel hierfür ist der Christchurch-Attentäter, der sein Pamphlet »The Great Replacement« nannte. Dahinter steht eine antisemitische Verschwörungserzählung, die in Deutschland von Rechten in ihrer Übersetzung »Der Große Austausch«, verbreitet wird. Die Anhänger dieser Erzählung glauben, dass eine (jüdische) Weltverschwörung plane, die deutsche Bevölkerung durch eine andere auszutauschen. Sie glauben an Gedankenkontrolle durch Impfungen. Auch Teile der AfD verbreiten die Erzählung vom »Großen Austausch«.
Solche Erzählungen wirken meist abstrus und verrückt, sie sind jedoch in ihren potenziellen Konsequenzen ernst zu nehmen. Mit der Coronapandemie haben sich Verschwörungserzählungen seit dem Frühjahr 2020 auch in Bayern verstärkt verbreitet. Die Broschüre »Das muss man auch mal ganz klar benennen dürfen« wirft einen genauen Blick auf dieses Problemfeld. Der Podcast »Schiefheilungen« von RIAS Bayern hat dem Antisemitismus bei den Coronaprotesten eine eigene Folge gewidmet: